Abschlussfahrt

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Es war die Seminarabschlussfahrt im März 2012, die den Ruin meiner Studentenzeit initiierte. Mein Kurs hat sich eine Woche in Berlin gegönnt, sinnloses Abfeiern am Puls der Zeit, das ganz große Entertainment im Vergleich zu den Möbelhaus-Eröffnungs-Karaoke-Feten, die in Erfurt denkmalgeschützt sind. Bevor wir losgefahren sind, habe ich mich entschieden, einen fragmentarischen, nonlinearen Roman mit dem Titel "Überdruck" zu schreiben. In Berlin hat sich der Roman entschieden, mich durch die Lappen entgehen zu lassen. Es ist so schaurig zu erleben, wie sich die Konzentrationsfähigkeit auflöst und die Wunde der Zeit Ereignisse in den leeren Raum eitert. Der Imperativ dieser Tage war: Alles muss immer weiter aufgerieben werden! Berlin hat mich gebissen, als Tier bin ich zurück nach Erfurt geraten.

Ich wäre niemals mitgefahren, wenn ich gewusst hätte, dass Pierre sich kurzfristig entscheiden würde, nicht mitzufahren. Die anderen Komillitonen konnte ich alle nicht ausstehen und sie mochten mich auch nicht: ich musste immer wieder unmissverständlich zum Ausdruck gebracht haben, dass ich kein Lehramt und nichts mit Medien und Soziales anzustreben, sondern das Studium nur als Vorwand benutze, um Bafög zu bekommen und Leute im Seminar mit Fragen und Behauptungen zu ärgern. Sie warfen mir oft Arroganz vor, weil ich in den Seminaren ein bisschen kontroverser mit den Dozenten diskutierte und nie mit jemandem außerhalb der Uni-Räume ins Gespräch kommen wollte und wie absurd!, dass ich mit denen eine Woche in Berlin herumhänge, in einem engen Hotelzimmer auf Kosten des Fachschaftsrates. Niemals werde ich mich ihnen ausliefern, niemals werde ich ein Auge zudrücken! Ich gehöre definitiv nicht in deren Leben. Mit Pierre hätte es charmant werden können, er mag es, dass ich ein bisschen auf ihn stehe. Vielleicht hätten wir uns betrunken und ich hätte mich daran gemacht, die Distanz zwischen unseren Lippen zu verringern. Pierre hat so zarte, schmale Lippen!

Ich sitze im Zug, sieben Uhr morgens, und erwarte, dass er gleich einsteigt; fuck! Er schreibt mir eine Nachricht: "Ich bin definitiv nicht in der lage mitzukommen. ich hoffe du bekommst die nachricht rechtzeitig." Nächste Haltestelle: Leipzig. Es ist Ende des Monats und auf meiner Geldkarte sind noch 10 Euro. Ich muss also mitfahren. Ein unfreiwilliges Abenteuer in die Nichtigkeit meiner Phantasie ist mein Schicksal. Ein paar scheiß Tage in Berlin, in denen nur die Arbeit an dieser wütenden Schwammigkeit etwas gezählt hat, hinter der der paranoide Imperativ steht, bloß nicht einzuschlafen, bloß nicht den Anderen ausgeliefert zu sein.

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Die laute, vergnügungssüchtige Jenny macht ein Foto von mir, wie ich demütig die Fensterscheibe anhauche und die vorbeirauschenden, welkenden Landschaften segne, graue Gedanken mahlend, zerknirscht und allein. Wie kann dieses Miststück ein Bild von mir machen? Ich beschwere mich bei ihr: "Ey, kannst du das bitte löschen!? Mir ist echt unwohl dabei!" und sie lacht so hämisch wie die dümmste Gans im Land: "Muhoho, das wird die ganze Welt sehen!" und ich fluche und dieser hässliche Jochen dreht sich um und gibt mir einen FDP-Cowboy-Blick: "Halt die Bälle mal flach, ja?" Ich möchte sein Gesicht mit einer rostigen Eisenstange umgestalten und lache falsch und eine kalte Panik krabbelt die Innenseite meiner Beine hoch. Auf keinen Fall werde ich ein Auge zudrücken. Ich muss permanent im Alarmmodus sein. Ich kann niemandem trauen. Ich gehöre nicht dazu. Sie gehören nicht zu mir. Ich muss die Sache ernst nehmen. Es wird wahnsinnig anstrengend werden, aber ich muss wach bleiben, ich werde immer wach bleiben. Unmengen Kaffee und Energy-Pisse müssen gekauft werden!

Dumpfes Tuscheln, Musik, Sonnenschein, ich niese und packe eine Axt aus und schlage den Gangboden des Busses auf, alle lachen, der Klassenlehrer zieht meine Hose runter und fotografiert meine seltsamen Geschlechtsteile ganz genau, es macht keinen Sinn sich zu wehren, meiner Mutter wächst daheim vor Scham ein Bart, der so flauscht und rauscht wie die Getreidefelder, in denen ich früher mit meinen Freunden gespielt habe.

Der Bereich zwischen Wachsein und Schlafen ist ein Schlachtfeld, auf dem sich die Zeit, das Ich und die Welt darüber streiten, wer am wenigsten Substanz hat.
Musik: Einstürzende Neubauten, "Das Schaben", so ätherisch, meditativ, eine riesige Lagerhalle mit Krachmelodien, die auf Benutzung warten.
Ich nicke für Sekunden ein und träume ein paar Minuten und wache erschreckt wieder auf, erschreckt über meine Unfähigkeit, nicht wach zu bleiben.

Langsames Vortasten des Zugzugzug im nächtlichen Nebel, verdrängte Müdigkeit schichtet sich leis hinter den Augen auf, heimliches Manöver, bald wird hier alles brennen. In ruckartiger Zeitlupe das Dunkel erhellblaut, langsam sich die Wörterrolle dichter wälzt, das schleimige Sandkissen hinter dem Gesicht und alle hier wollen alles nochmal wiederholen, was sie letzten Sommer erlebt haben. Lächerliches Erinnern, lächerliches Ansprüchehaben. Abseits der Sonne beginne ich zu sinken und es gibt kein Loch, in das ich die Hitze meiner Gier nach Zerfall drücken kann. Eine Ernsthaftigkeit überwältigt mich wie noch nie, sie macht jedes Wort verächtlich, raubt mir die Klarheit meiner Gedanken: welche Stimme haben meine Gedanken? Wen imitieren meine Selbstgespräche, was ist das für ein Bewusstseins-Automatismus, der mir so schwer in der Fresse drückt? Wem gehört meine Fresse? Berlin brüllt mich an, immer und immer wieder.
Die Werbung hält mich für einen Idioten, die Polizisten schauen mir auf den Arsch, die Autos allein machen diese Stadt zu einer grässlich stinkenden, bösartigen Maschine, in der man für Freundlichkeit und Gemütlichkeit mehr zahlen muss als für eine Bratwurst und Dosenbier. Die einzige Utopie, die ich habe: meine Kommilitonen sterben heute Abend beim Flaschendrehen.
Ich springe freudig in die Mitternacht, wohl wissend, dass alles hier mich richtig fertig machen wird und noch viel wohler wissend, dass es mich ein bisschen erwachsener, kälter, böser - also reifer machen wird, das Fertigsein, das tollkühne Starren in die Sackgasse, die mir zusteht. Sinnlöslichkeiten hinter mir, Sinnabstößlichkeiten noch vor mir. Meine Nichtzugehörigkeit lässt meine Schwanzspitze leuchten. Ich spüre all die Ströme unter der Haut der Leute, ich höre das Rauschen in ihren Köpfen, ich verliere mich in der Hotellobby bei Selters und der Unfähigkeit, mir meine Gedanken und meine Sprache und meine Haltung zur Welt auszusuchen. Welche Stimme haben meine Gedanken? Wen imitieren sie? Woran orientieren sich meine automatischen Selbstgespräche? Der Mund bewegt sich, um etwas zu konservieren, könnte der Dreck meiner Seele doch den Wein vergiften, der herumgereicht wird! Ich habe mir lang keinen Porno mehr angesehen. Zeitvertreib ist Lebensqualität. So ein widerwärtiger Haufen Peinlichkeiten, nach außen umgekrempelte Menschenkörper in schmutziger Luft, begehren, lüsteln, witzeln, ich sitze daneben auf kaltem Boden und finde keine Worte, meine Augen drehen sich herum auf der Suche nach Tränen (die niemals retten könnten). Messerscharfe Langeweile schneidet immer mehr Seele aus den Spaßgesellschaftlern heraus. Fast wie Herr von Dingens am Felsen, immer wächst die Seele wieder nach. Sie können noch so blöde Spiele spielen oder sexistische Scheiße labern, ich spüre etwas Seele in ihnen, ekelhaft, ich möchte etwas sagen, ich möchte etwas aufheben. Ich versuche zu schreiben, aber es gelingt mir nicht. Man hat mich, wo ich bin: Das beDÜRFnis stabile Worte zu bauen Nagt An Meinem auge wie ein süßer Giftpilz, unterflüssige Gedanken verschwommen im Druck der sich PerIodIscH ändernden lautSTAeRKe macht mich alt, alle tuscheln, niemand ahnt mich - Kermit zieht mich bei „Mensch Ärger Dich Nicht“ über den Tisch - draußen wird es hell, so viel Tage hier, in der Ecke eines Cafés, der Kellner sieht mir den Kreig an, aus dem ich komme, er streichelt mich und ich klettere klettere ins bedeutende Ruhe, heiliges Wasser, Schlaf.

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Im Wesentlichen verbrachte ich meine Zeit allein mit meinen Texten im Hotelzimmer, und sobald einer der Boys von der Jagd zurück kam, schlenderte ich bis zum Morgengrauen durch die Stadt, als Wesen ohne Heimat und Schlaf in Beton und Phantasie verloren, eine unbändige Schreibmanie und Licht- und Geräusch-Überempfindlichkeit machte es mir unmöglich, ein sympathisches Gesicht zu machen und nur ab und an ein Nickerchen im Café oder der Bibliothek. Nein, das wird kein Dandy-Roman, ich rauche keine Pfeife, meine Armut ist nicht poetisch, meine Einsamkeit ist kein Politikum, mein Wahn ist nicht konstruktiv, meine Depression ist nicht ausbeutbar.
Ich versichere den Lesern, dass es in diesem Buch nicht um Amphetamine geht. Auf einer home party im ersten Semester habe ich zum ersten und zugleich letzten Mal in meinem Leben Amphetamine genommen. Es ist mir wichtig klarzustellen, dass ich weder in Berlin noch Erfurt illegale Substanzen benutzt habe. Dies ist meiner Intention nach kein cooler, ausgeflippter Road Trip; ich werde aus den Ereignissen dieser Woche in Berlin keine Geschichte, keinen Roman machen können.

So wenig ich weiß, so ungenau ich fühle, so verschwommen ich sehe, so laut muss ich schreien, so hart muss ich mein Urteil sprechen. Die Welt rauscht an mir vorbei, ich bin nicht wirklich dabei, meine Nerven sind immer in der Lage zu zerfleddern, ich halte mich an meinen klaren, einfachen Worten fest, bis auch sie zerfleddern. Meine Seele wird von den Worten zusammengehalten, die ich in das Rauschen der Welt brülle mit unfreiwillig ironischer Stimme, noch ein bisschen, ein kleines bisschen vielleicht nur, dann fliegt der ganze Laden auseinander. Ich wünschte die Möglichkeit, dass meine Seele zusammenstürzt, wäre eine Firma, die man anrufen kann wie einen Internetanbieter, denn dann würde ich mich beschweren. „Also so geht es nicht! Ich verstehe ja, dass ich nicht der Einzige bin, aber langsam reißt mir der Geduldsfaden! Ich möchte, dass Sie endlich aus dem Arsch kommen, oder ich verlange mein Geld zurück! Zur Not schleppe ich Ihren ganzen verkommenen Saftladen bis nach Karlsruhe! Drehen Sie an der Kurbel oder ich mach es selbst!“ - Ich warte zu rauschendem Krach tanzend darauf, dass ich verstehe, warum ich nicht endlich wahnsinnig werde. Ich bin noch immer das verfehlte, frostige, unnahbare, hyperweiche Kind, ich schau so, als würde ich mich hassen und als könnte ich mich nicht selbst überwinden, als wäre ich auf die Toleranz von Leuten angewiesen, mit denen ich nichts anfangen kann. Meine abertausend Müdigkeiten bilden eine Wolke, die sich vom Süd- zum Nordpol, vom Ost- zum Westpol meines Bewusstseins erstreckt. Ich kann nur ganz einfache, banale, alltägliche Sachen ernst nehmen. Für alles andere fehlt mir das Talent, die Hoffnung. Alles ist ziemlich einfach, wenn man müde ist.

Ich habe keine genaue Ahnung, welche Texte in welcher Stadt unter welchen Bedingungen entstanden sind. Ich bin irgendwann auch schwarz mit der Bahn gefahren und meine Paranoia hat mich immer zuverlässig vor Kontrolleuren beschützt. Alles zog an mir vorbei: die Gesichter, die Worte, mein Wohnen, mein Atmen: vielleicht wäre ich wie ein transparenter Ballon in den Himmel geflogen, hätte ich mich nicht an meinen Worten festgehalten. Was kann noch geglaubt werden? Wo ist eine Struktur? Wozu bin ich im Stande? Wie lang kann ich wachbleiben? Wie weit kann das alles getrieben werden? Kann ich mich vielleicht komplett auflösen? Irgendwann saß ich im Zug zurück nach Erfurt, irgendwann in der Straßenbahn Richtung Uni. Ich muss also wieder Geld haben, der April ist da. Es ist schließlich unmöglich geworden, dem Geschehen in den Seminaren zu folgen. Ab und an fand ich kurzen Schlaf in meinem dunklen, ruhigen WG-Zimmer, aber heilsam war er nie.
Berlin und Erfurt sind verschwommen zu einer unübersichtlichen Frage mit tausenden Tentakeln. Der Himmel ist ein Mikrowellengrill.
Im Unterricht versinken. Desintegriert Euch! Im Café versinken. Desintegriert Euch! In meinen Texten versinken. Desintegriert Euch! Tanzende, zerbrechliche Menschen. Die schöne, nicht bezweifelbare Lust, Menschen weh zu tun. Etwas anzünden. Perverse Filme ansehen, menschenverachtende Bücher lesen, alle Grenzen der Ästhetik sprengende Musik anhören - damit sich etwas im Gehirn ändert, damit neue Gedanken und Träume und Handlungen möglich sind. Es ist alles so trist hier und ich bin nirgends allein. Zum Glück werde ich nicht schlafen können.

Die folgenden zwei Jahre waren Jahre der Verlotterung, der Abirrung, der Zersetzung. Unfähig, etwas zu glauben, unfähig, etwas zu hoffen, stürzte ich mit Wollust in die mitteldeutsche, ostdeutsche, lieblose Provinz des Herzens, euphorische Fassungslosigkeit, perverse Lüste, menschenverachtende Niedergeschlagenheit leuchtete mir den Weg nach unten. Zu meinem Glück gehört es, im Sommer 2014 eine Blume entdeckt zu haben, die mir geholfen hat, mein Selbst- und Weltbild zu knacken und damit auch diese banale, brutale Depression, die meinen dummen, verkommenen Eltern noch heute in der Fresse klemmt und vulgär leuchtet. Manchmal bin ich starr vor Panik, wenn ich mir vorstelle, welche niederträchtigen Dummheit ich meinen Eltern durchgehen ließ, blass will ich vor Selbsthass werden: wie konnte ich mich nur so erniedrigen lassen? Den Respekt, den sie eingefordert haben, haben sie niemals verdient und ich werde alles in meiner Macht stehende tun, sie büßen zu lassen für alles. Ich stell mir vor, wie ich meine Mutter die Treppe herunterschubse, ich höre ihre Knochen brechen, sie brüllt wie ein Affe im Käfig, ihr Stecher kommt aus dem Wohnzimmer gerannt, was für ein widerlich cholerisches, zappelndes, böses Tier: ich habe einen Hammer in der Hand und bewerte damit sein Gesicht. Die Kälte, die ich von meinen Eltern erfahren habe und zurückgeben muss, um meine Würde wieder herzustellen, ist die selbe Kälte, die in den Herzen der Rechtsextremen herrscht. Unsere Kälte ist ein Politikum. Doch das wusste ich 2012 noch nicht. Damals hätte ich mir nicht ausdenken können, dass 2017 eine Partei rechts von der Union als drittstärkste Kraft in den Bundestag einzieht. Es gibt so viel Kälte in Deutschland - im Rückblick muss ich mich fragen, was es mir gebracht hat, mich der Kälte hinzugeben. Vielleicht musste ich so tief sinken, um genau zu erfahren, nach welcher Höhe mich eigentlich gelüstet. Ohne die Idee eines weltweiten Sozialismus, gemütlich, demokratisch, liebevoll, zärtlich, ohne die Idee von der Möglichkeit einer umfassenden Verbesserung der Lebensbedingungen sämtlicher Menschen auf der Erde wäre ich zu einem weltverneinenden Verbrecher geworden, ein gieriges, respektloses Stück Fleisch. Oh, es steckt noch so viel Unfreundlichkeit, so viel Niedertracht, so viel Ostdeutschland in mir. Je weniger Schlaf ich bekomme, desto größer die Gefahr, von dieser Stadt verschluckt und zerstört zu werden. Ich ließ es darauf ankommen, aus reiner Langeweile.