Der Eindringling

(Prolog)

Ich bin sicher, keine fiktive Person zu sein und meine allmorgentlichen Kopfschmerzen lösen sich auf in meiner Freude darüber, was ich mir heute alles erspare, wenn ich den ganzen Tag im Garten sitze und meine Armut verkrafte und an mir herumspiele. Ich existiere - das bedeutet: ich bin nicht darauf angewiesen, dass man mich für real hält. Ich hänge an meiner Realität, an meiner Nicht-Fiktivität, ich bin sehr froh, nicht bloß ein fiktiver Charakter in einer fiktiven Welt zu sein und stelle mir eine Straße vor, auf der ein großer, schwarzlockiger Typ mit schwarzer Lederjacke, weißem, schmutzigen T-Shirt, dunkelroter Jeans und braunen Turnschuhen läuft, sein Gesicht ist schmutzig und irgendwas stimmt mit seinen Augen nicht. Ich weiß nicht, ob ich ihn sympathisch finde oder nicht, er schaut mich an und lächelt, ich spüre dass er dankbar dafür ist, dass ich ihn mir vorstelle. Meine Phantasie ist seine einzige Existenzgrundlage, er ist so dermaßen von mir abhängig, dass ich mir darauf etwas einbilden könnte, dass er am Leben bleiben will und ich ihn nicht sterben lasse. Klaus Kleber erscheint über meiner Schulter und fragt mich: "Würde es dir etwas ausmachen, ihn zu erschießen mit einem fiktiven Revolver in deiner fiktiven Hand, den fiktiven Abzug gedrückt von deinem fiktiven Finger, der mit einem fiktiven Gehirn verbunden ist, das einem fiktiven Wille gehorcht, der fiktive Ursachen hat? Bist du Herr über deine Phantasie? Hast du sie in der Hand? Wer hat die Kontrolle über das Gesicht des Typen, der dich gerade anschaut?" Ich trinke noch einen Schluck Tee und spüre, wie sich mein weiches Gesicht in die Welt bohrt. Es gibt niemanden, dem ich etwas vormachen muss, denn es gibt niemanden, den ich anfassen will. Es gibt niemanden, der mir etwas zu sagen hat, den niemand weiß, was ich alles kann. Es gibt nichts, was ich noch lernen muss, denn ich habe keine Bestimmung. Das Bewusstsein stolpert von einer Uneindeutigkeit zu nächsten, versucht Muster zu erkennen und Haltung zu beziehen, bis das Gehirn dafür keine Energie mehr aufbringen kann und stirbt und sich im Erdreich auflöst. Alles, was man tun kann, ist mit den Schultern zu zucken.

Die Natur lässt uns im zunehmenden Alter abstumpfen, damit wir nicht so sehr unter dem Bewusstsein unseres Todes leiden; wir müssen kälter und dümmer und oberflächlicher werden, damit uns der Gedanke an unser unvermeidliches Ende nicht in den Wahnsinn treibt, denn warum sollten wir uns nicht von jeder Moral, jeder Vernunft, jeder Scham, jeder Art von Respekt und Mitleid befreien, wenn wir wüssten, dass wir in eine Ewigkeit puren Nichts stürzen, dass nichts von Dauer ist... Die Antwort auf dieses Warum definiert unsere Individualität. Der Tod trifft auf keinen stärkeren Rammbock als das menschliche Ichgefühl. Ein Mensch, der "ich" spürt und behauptet, negiert den Tod und das Nichts. Wie absurd, angesichts der Tatsache, dass er eines Tages sein Bewusstsein verliert und damit sein Ich und damit seine Unsterblichkeit. Diese Absurdität kann er nicht sein ganzes Leben lang hinnehmen, ohne körperliche und geistige Verfallserscheinungen  zu zeigen. Vielleicht ist es also gut, dass wir abstumpfen werden, dass wir langsam erlöschen und den vielleicht viele Jahrzehnte umfassenden Rest unseres Lebens selig vor Stumpfheit dahindämmern, damit wir uns und Andere nicht verrückt machen.

Ich stelle mir einen 12jährigen Jungen vor, der auf einem Baumstamm sitzt, er hat nur eine rote Schwimmhose an und stochert mit einem Stock im Erdboden herum. Er weiß nicht, dass ich ihn beobachte und wüsste er es, wäre es ihm egal. Er lebt in einer völlig abgeschlossenen, runden Welt, nur für sich, ganz allein und ohne Sinn für die Zukunft, er bewertet nichts, seinen Körper nicht, seine Wahrnehmung nicht, das Wetter und den Garten nicht, er nimmt alles einfach hin, er nimmt es auf sich, ohne Bedenken, mit einer stillen, erhabenen Freude, ohne einen einzigen dunklen Fleck auf seinem Herzen, wenn nicht mit der radikalen, unschuldigen Hinnahme der Welt ein derart intensives Glücksempfinden verbunden ist, das das Herz verfinstert, weil man es nicht begreifen und adäquat auszudrücken kann. Der Junge ist sich so sicher, dass er sein Leben nicht verschwenden würde, wenn er jeden Tag seines Lebens damit zubringen würde, im Erdboden mit diesem Stock herumzustochern. Der Sinn des Lebens ist, sich keine Gedanken um die Zukunft zu machen. Ich stelle mir vor, wie ich den Jungen umarme und küsse und neben ihm liege und ihn ganz fest an mich drücke, wie er sich entspannt und schlaftrunken neben mich räkelt, dieses tiefe, ernste, süße Vertrauen, dass ich ihn beschütze vor dem, was auf ihn zukommt, wie ich immer leichter und heller werde. Der Grund, warum ich nicht über solche Phantasien mit diesem Junge erschrecke, ist, dass es ihn ja gar nicht gibt; ich hab ihn nur erfunden. Ich wäre gern wie er so frei und unfähig, etwas mit Worten anzustellen. Mein Sprachzentrum verdirbt meine Wahrnehmung, mein Lebenslust verfängt sich in meiner kalten, spießigen Geschwätzigkeit. Man kann die Kindheit nur genießen, weil man nicht weiß, wie fahl und leer das Leben eines Erwachsenen ist. Man kann nur etwas in seiner ganzen Fülle erfahren, wenn man nicht weiß, dass es nicht für immer da ist. Wenn ich weiß, dass das Glück, das ich empfinde, irgendwann fort ist, dann empfinde ich es nicht wirklich: ich klammere mich nur dran und versuche so viel es geht für mich auszukosten: eine solche Gier, getrieben von absolut berechtigter Verlustangst, verfälscht den Geschmack, verzerrt den Augenblick. Ich werde niemals so frei und leicht und herzig sein können wie ich es damals hätte sein können, ich hab meine Chance verstreichen lassen. Ich würde am liebsten nur Bücher für Kinder schreiben, für die es noch nicht zu spät ist. Die Gewissheit, dass es für Einige noch nicht zu spät, ist selbst an schlimmen, grauen, erstickenden Morgen eine Motivation, aus dem Bett zu steigen.

Wir nehmen nie die Wirklichkeit wahr, nur das, was unser Gehirn erzählt. Es sitzt wie in einer Reifenschaukel und schaukelt wie ein Kind, das man irgendwo eingesperrt hat. Wir können nur schauen und vorschnell urteilen, es gibt viel hinzu- und wegzudichten, alles ist fragmentarisch, es gibt immense Lücken, die man füllen kann, aber nicht füllen muss mit allem, was irgendwie nützt. Die Welt ist ein Ding und unsere Wahrnehmung ist ein anderes Ding und wenn beide aufeinanderstürzen, funkt es und diese Funken entfachen unser Ich-Gefühl und mein Ich-Gefühl ist nerviger als fünfzig Mücken in meinem Schlafzimmer. Wird man mich mit solchen Mittelfinger-Sätzen durchkommen lassen? Jeder Leser möchte Butter bei die Fische haben, dabei bin ich noch ganz lebendig und schwimme im Meer und genieße das Leben hier. Jedes Ideal, jeder Leser, jeder Anflug von Ego ist ein Angelhaken: nichts dagegen einzuwenden, solang ich nicht anbeiße, oder? Mein Desinteresse dafür, wer ich bin und was ich sein könnte, macht mich derart nervös, dass ich mir nicht vorstellen kann, jemals darauf angewiesen zu sein, mich zu irgendwas zu bekennen und wäre ich kein Schriftsteller, müsste ich andere Wege finden zu behaupten, zu beweisen, dass ich es nicht nötig habe, mich zu erkennen, mich als etwas darzustellen und dass es niemandem gibt, der mich loben oder tadeln könnte für etwas, was ich tu oder nicht tu, denn einatmen macht faltig, ausatmen macht gleichgültig, sehen macht müde, denken macht wund, kommunizieren macht dunkel, träumen macht nervös, begehren macht klein und hoffen macht unsichtbar.

I

Schweißverklebt erwache ich am heißesten Tag des Jahres in meinem vollgemüllten Raum, der von moorgrünen Vorhängen verdunkelt ist, hinter denen das grelle, aggressive Leben stattfindet, während ich wie ein großes, schwerfälliges Reptil in meiner Höhle auf der Suche nach Wasser und Liebe ins Bad krieche, ohne Stil und Verstand an meinem Leben vorbei. Nicht genötigt, etwas in der Welt zu bewirken, ist mir jedes Unbehagen wie jede Nervenüberreizung, die man gemeinhin Lebensfreude nennt, entglitten. Ist es verwunderlich, dass ich keine Feinde habe und glaube, weit über 100 Jahre alt zu werden?

Draußen im Garten dampft der schwarze Komposthaufen und in diesem Sommer wird etwas Ungeheures auf ihm blühen und gebissen von der Lust, etwas Eiskaltes in meinem Mund zu haben, bewege ich meinen schuppigen Körper in raschen Zickzack-Bewegungen zum Kühlschrank und krall mir das Stracciatella-Eis, das ich mir gestern gekauft habe, doch leider ist es nicht mehr gefroren, weil sie mir jetzt endlich den Strom wie angekündigt abgeklemmt haben. Ich schlecke etwas vom Eis-Schaum, der künstliche Geschmack enttäuscht , erniedrigt mich: ich will doch nur aus einer billigen Plastikbox billigen Eis-Schaum löffeln, der in Massen produziert und günstig verkauft wird, um Menschen eine süße, erfrischende Leckerei zu bieten. Die einfachsten Selbstverständlichkeiten sind mir nicht vergönnt: und das Plaste enthält sicher auch giftige Weichmacher, die an das Eis abgegeben werden, aber dagegen kann man sich nicht wehren, man muss es hinnehmen oder sich leisten können, auf Plastik zu verzichten. Ich bekomme bald einen Brief, in dem mir ein Beamter sagt, wann und wie es weitergehen soll. Ich habe einen Bearbeiter, ich werde bearbeitet. Ich stellte mir vor, wie ein Mädchen sich im Physikunterricht meldet und den Lehrer fragt, ob man Eis als nass bezeichnen kann. Ich würde als Lehrer antworten: "Also nass ist das genaue Gegenteil von trocken, trocken bedeutet: Abwesenheit von Wasser. Da aber Eis gefrorenes Wasser ist, Wasser also nicht abwesend ist, ist es nicht trocken. Und das genaue Gegenteil von trocken ist nass."

Ich braue mir einen sumpfgrünen Mate-Ingwer-Tee, setz mich damit auf den kargen Balkon und die Nachbarin kommt gerade mit einem Wäschekorb aus dem Haus. Wir grüßen uns und sie fragt mich, wie es mir geht und ob ich die Party gestern zu laut gefunden habe. Ich versuche, glaubhaft auszudrücken, dass mich die laute Musik nicht gestört hat, aber fühle mich wie ein biederer Spießer, der sich nur nicht anmerken lassen will, wie verärgert er ist. Ich habe lang nicht mehr mit Leuten geredet und bin nun nichtmal mehr in der Lage, harmlosen Small Talk zu führen. Ich knüll mich zusammen und rolle mich in mein kühles, vertrautes Zimmer zurück.  Mich als einsam zu bezeichnen ist als würde man den pazifischen Ozean als feucht bezeichnen, aber ich wüsste nicht, wem ich etwas bieten könnte und wer mir. Mir ist, als wären andere Menschen nur da, um mich daran zu erinnern, wie einsam ich bin, meine Einsamkeit noch weiter auszudehnen. Zwar schmeckt mir der Tee, aber ich ahne, dass meine Enttäuschung über das geschmolzene Eis meinen Geschmack verzerrt. Vielleicht kann mein Körper ja nur in begrenztem Maße enttäuscht sein und trickst, wenn das Maß voll ist, so gut es geht herum. Und selbst, wenn der Tee wirklich gut ist: er ist nicht deshalb gut, weil ich ihn gekauft habe, niemand hat mir damit persönlich einen Gefallen tun, einen Genuss bereiten wollen, ich hatte bloß Glück, dass ich den Tee abbekommen habe.

Ich hau mich ins Bett und umarme Decke und Kopfkissen und beobachte wie mein Becken zuckende, stoßende Bewegungen macht, wenn mich mein Körpergeruch nicht so anwidern würde, könnte ich auch eine Erektion bekommen. Ich rieche nach altem Ossi, nach Wolfgang, nach Ronny, nach Mike, nach Heiko, so richtig gewöhnlicher, biederer Malocher-Schweiß. Ich beschließe, ein Bad zu nehmen. Dazu bedarf es einiger Erledigungen: ich muss den Boiler anstellen, das schmutzige Geschirr, das schon seit Tagen in der Wanne aufweicht, sauber machen (ich hab kein Spülbecken in der Küche), mir neue Klamotten rauslegen, eine CD für das Bad-Radio auswählen. Es dauert ungefähr eine dreiviertel Stunde, bis das Wasser im Boiler heiß genug ist.

Der Kontrast, den die grauen, hässlichen Wände mit der schönen, klaren Musik von Bach bilden, ist so stereotyp, dass ich mir wie in einem Abschlussfilm von Kunststudenten vorkomme. In der Wanne liegt ein untersetzter, haariger, unförmiger Körper, viel zu lang um vom Hals abwärts unter Wasser sein zu können: das Wasser reicht bis zum unteren Rand der Brustwarzen, die sperrigen Beine sind angewinkelt und mit haariger Gänsehaut überzogen. Ich hab beim Einlassen zu spät Duschbad dazugegeben, sodass sich kaum Schaum bilden konnte und so muss ich meinen ekligen Körper sehen und unweigerlich identifiziere ich mich mit ihm, ich kann keinerlei Differenz zwischen meinem Inneren und Äußeren aufrechterhalten. Meine Kleidung hat nicht nur die Aufgabe, mir meinen Körper, sondern vor allem mein meinen Charakter, mein Schicksal zu verschleiern. Ich wollte mich ja unbedingt erfrischen, ohne darüber nachzudenken, ob ich das überhaupt verdient habe. Ich finde es falsch, dass man sich, obwohl man sich ekelhaft findet, etwas Gutes tut, genau so wie ich es falsch finde, eine unsympathische Person umarmen oder sogar küssen zu wollen, aber wenn man sich nicht vernichten kann, dann soll man sich auch nicht vernichten wollen. Kein Elefant reißt einem Geier die Flügel aus, klebt sie sich an die Schultern und versucht damit zu fliegen.

Das Wasser hat nun eine Temperatur die mit der gefühlten Temperatur der Luft übereinstimmt, sodass es scheint, als wäre die Wanne leer und ich läge nackt in der frischen Luft einer Meeresdüne. Ich stell mir vor, wie eine kühle Briese meinen ganzen Körper umfährt. Ich liege breitbeinig da, niemand sieht mich, mein Schwanz ist völlig ungeschützt, aber es ist absolut unmöglich, dass jetzt jemand mit einem Werkzeug danach schnappt. Absolut sicher und entspannt, scheint es mir, dass sich das ganze Leben um solche Momente dreht. Es ist völlig egal, wie man aussieht oder was man tut, solang man sich dabei so wohl fühlt wie ich in einer Badewanne. Ich bin absolut frei, weil mich niemand wahrnimmt. Ich könnte wichsen oder ins Badewasser kacken, niemand würde es mitkriegen, es ist absolut unmöglich, dass jemand mir irgendwann ansieht, dass ich mal in die Wanne geschissen hab. Meine Bewusstheit über meine Freiheit erregt mich. Ich spiele an meinem Arschloch herum, obwohl sich das irgendwie nicht gehört, es ist kindisch und eklig, aber es fühlt sich gut an. Jeder, der auch nur ein klein wenig Menschenkenntnis hat, weiß, dass meine Art zu leben zwangsweise dazu führt, dass ich mir am Arschloch herumspiele. Insofern verwirkliche ich mich selbst und vielleicht ist jemand, dem danach lüstet, fremden Leuten in den Kleiderschrank zu scheißen und diese Lust auch Schritt für Schritt verwirklicht, genau so glücklich wie jemand, der sich Tag für Tag dem ungeheuren Druck in der Fabrik beugt und sich schief und krumm arbeitet, um seine Familie zu ernähren.

Langsam wird es mir zu kalt in der Wanne. Während ich das Wasser auslasse, kleckse ich die Reste des Duschbads auf meine Handflächen und schrubb mich von oben bis unten sauber, dusche mich ab, steig aus der Wanne und trockne mich ab, während ich den Drang spüre zu pissen. Wie ein Spatz mit rotem Gefieder, der in Erwartung einiger Brötchenkrümel zu mir hüpft, beißt der Gedanke, mich in Unterhosen in die Wanne zu setzen und mich vollzupissen, in mein Herz. Eine ungemeine Vorfreunde überwältigt mich und ich zieh mir meine grauen Shorts an und wische mit meinem Badetuch die Wanne trocken. Es ist mir etwas peinlich, das so vorzubereiten, ich komm mir wie ein alter, fetter Mann vor, der, bevor er die Nutte fickt, nochmal kurz ins Bad geht und seinen Penis sauber macht, oder wie ein Wolfgang, der einen Spaß daran hat, kleine Katzen qualvoll zu ermorden und penibel eine Cellophan-Plane im Wohnzimmer ausbreitet und die Gardinen zuzieht und das Werkzeug bereitlegt. Glücklicherweise ist das Lustgefühl, das ich erwarte, größer als meine Scham - und ich bin mir ja absolut sicher, dass mich niemand sieht. Ich hole mir noch einen Plastebeutel aus der Küche, um die Unterhose dann schnell darin zu verpacken.

Jetzt lieg ich in Unterhosen in der Wanne, sie ist noch ganz warm vom Badewasser. Es ist gar nicht so einfach, loszupissen, ich spüre eine Sperre, die mich erregt. Seit meiner frühsten Kindheit habe ich gelernt, den Harndrang solang zu unterdrücken, bis ich auf Toilette bin oder mich draußen unbeobachtet fühlen konnte. Trau dich! Es ist absolut nicht schlimm, selbst wenn du scheißen musst, lass einfach alles raus, es gibt keinen Grund, zivilisiert zu tun, wenn man unbeobachtet in der Badewanne liegt. Kannst du dich überraschen? Kannst du etwas Irrationales machen? Kannst du einfach mal ganz und gar frei und entspannt sein? Kannst du dich unabhängig machen von Leuten, die du niemals anfassen wirst? Jetzt kommen die ersten Tropfen. Gegen meinen Willen halte ich wieder an. Schon gut, lass es raus, piss dich richtig voll! Und plötzlich sprudelt es fröhlich heraus, das Grau der Hose verdunkelt sich, ich zieh sie etwas runter und pinkel meinen Bauch und Oberkörper voll und verteile mit der linken Hand die warme, fast geruchsneutrale Pisse über meinen ganzen Oberkörper und zwischen meine Beine und es kommt immer mehr Pisse, mir ist, ich stell mir vor, wie ein haariger, lustiger, kleiner Teufel auf einer sonnigen Waldlichtung liegt und sich vollpisst und wohlig grinst. Ich bekomm eine ungewohnt harte Erektion und beginne zu onanieren. Eigentlich brauch ich dazu immer Pornos, doch jetzt reicht mir die Gewissheit, dass ich mich gerade vollgepisst habe. Ich räkel mich leise stöhnend in der Wanne; das Stöhnen ist nicht authentisch, ich stöhne bewusst, um mich damit anzutörnen. Meine vollgepisste Haut reibt quietschend an der Badewanne, ich steiger mich total in die Tatsache rein, dass ich in meiner Pisse liege und wichse, ich bin so ein dreckiger, verkommener Mensch, es gibt keinen Grund, das zu leugnen, ich steck mir zwei Finger ins Arschloch und nach einer Weile ejakuliere ich in meine Shorts und verteil das Sperma über meinen ganzen Oberkörper. Ich zieh die Shorts aus und wisch mir damit den Oberkörper ab, dann beug ich mich aus der Wanne heraus, schnapp mir den Plastikbeutel und pack die Hose rein und dusch ich mich nochmal richtig ab. Ich glaub, so sauber war ich noch nie. Ich zieh mich an und stopfe den Beutel mit der vollgepissten Unterhose in einen leeren Pizzakarton, den ich nachher in die Mülltonne vorm Haus entsorgen werde, erstmal mach ich mir noch einen Tee und schaue auf arte.tv eine Dokumentation über Cannabis an und frage mich, ob ich nun, fast am Ende meiner Zwanziger, reif für die Pflanze bin, vor der ich mich bisher aus Angst, paranoid zu werden, gedrückt habe.

Es klopft und ich geh freu mich, dass jemand etwas von mir will. Es ist mein Nachbar André, frisch geduscht und braun gebrannt und mit zugekiffenen Augen, eine Blume im schwarzen, lockigen Haar und fragt, ob ich mit einkaufen komme, er will Bier kaufen und braucht Hilfe beim Tragen. Ich sag, dass ich mich noch kurz frisch machen will und dann gleich bei ihm klingel. Ich werde versuchen, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich spüre, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Es ist ganz bestimmt nicht wegen mir, also kann ich schonmal ganz entspannt sein. Vielleicht hat er wieder Probleme mit seiner Mitbewohnerin. Ich werde einfach nichts weiter sagen, solang es nicht etwas wegen mir ist, interessiert es mich eigentlich auch gar nicht. Wir haben schon lange Zeit keinen richtigen Bezug mehr zueinander. Ich weiß gar nicht, warum, ich hab es einfach so hingenommen, denn wahrscheinlich hat sich einfach für uns beide herausgestellt, dass wir nicht viel miteinander anfangen können. Ich werde manchmal zum Grillen in den Garten eingeladen oder gefragt, ob ich bei der ein oder anderen Sache mithelfe, aber ich bin nie wirklich bei der Sache und ob das die Anderen merken, ist mir egal und ich weiß was diese Egalität bedeutet. Ich nehme auf dem Weg nach draußen den Müllbeutel mit und hoffe, dass André nicht fragt, was drin ist. Er schaut den Beutel so an, als würde er sich die Frage verkneifen, aber es ist gar nicht möglich, dass mich jemand gesehen hat. Ich hau den Beutel in die Hausmüll-Tonne und als ich den Deckel wieder zuknall, hab ich Angst, dass André mir sagt, dass Plastikmüll in die Gelbe Tonne gehört. Aber er sagt nichts, er sagt auf dem ganzen Weg zum Supermarkt nichts und ich versuche so zu tun, als wäre es mir egal. Ich nehm mir immer vor, etwas Tolles, Neues, Interessantes zu kaufen, ende aber immer wieder mit Tiefkühlpizza. Vielleicht ist das die Zusammenfassung meines Lebens, das Einzige, was man über mich wissen muss. Vor uns an der Kasse steht ein süßer Junge mit einer grauen, engen Jeans und zuhause tauche ich meinen Kopf ins Waschbecken und mir wird bewusst, dass mein Leben sehr einfach ist.

Mein Leben ist ein kleines Badezimmer, in dem ich tun und lassen kann, was ich will. - Da liegt ein kleines Steinchen am Brunnenrand und du kannst es in den Brunnen schnippen oder nicht. Was sind die Gründe dafür, dass du manchmal deinen Fähigkeiten nachkommst und manchmal nicht? Unser Staat kann nur funktioniert, wenn seine Bürger nicht in Extreme abrutschen, sondern lieb und mittelmäßig sind. Nicht jeder ist in der Lage, sich freiwillig in die Hose zu pissen und meine Fähigkeit, dabei noch Lust zu empfinden, lässt mich daran zweifeln, dass ich einen Personalausweis verdient habe. Alles was man tut, tut man nur für sich selbst, um die eigene Persönlichkeit auszubauen, zu stabilisieren, um sich zu erzählen, wer man ist, um sich klar zu machen, wo man steht, um sich für andere Leute, von denen man mehr oder weniger abhängig ist, zu schmücken.

Es wird immer wärmer, ich kann mich kaum mehr bewegen, alles läuft ganz langsam ab, mein Metabolismus kann nur das Allernötigste tun, eine Fliege summt aufgeregt herum. Ich weiß nicht, ob ich angespannt oder entspannt bin. Bald werde ich wieder pinkeln müssen und wie ein schweres, dunkles Grinsen liegt mir die Lust, mich wieder in Unterhosen in die Badewanne zu setzen und mich vollzumachen, auf meinem Herzen. Werfe ich das Steinchen in den Brunnen? Ich starre die Zimmerdecke an und döse ein und träume davon, neben einem Jungen zu liegen, den ich sehr liebe, ich versuchte über den ungewöhnlich heißen Sommer zu reden, aber er sage: "Mann, sei ruhig, ich will schlafen." Ich fühle mich dumm und ekelhaft und mir wird bewusst, dass ich ihn nie küssen werde und stell mir vor, wie ich in Unterhosen in der Badewanne sitze und mich vollpisse, plötzlich wache ich auf, weil ich merke, dass dünnflüssige Kacke aus mir fließt und plötzlich springt der Junge erschrocken auf und ich schaue ihn mit dem hässlichsten Gesicht an, zu dem ich fähig bin und weiß endlich ganz sicher, dass ich ein völlig kaputter Mensch bin, der sich niemals eine aufrichtige Umarmung, niemals einen Kuss verdienen wird. Ich überlege, ob ich meinen Schiss nehme und damit den Jungen bewerfen sollte, damit er denkt, ich bin wahnsinnig, denn vielleicht kann man einem Wahnsinnigen eher verzeihen als einem Gesunden. Während der Typ entsetzt das Fenster aufmacht, stottere ich ich aufgeregt: "Ne, na? Ne, na? Das muss ein Traum sein, ein furchtbarer Traum, nur ein Traum, ein Traum." und erwache in meinem Bett, brauche ein paar Sekunden um zu verstehen, dass ich nur geträumt habe und atme auf wie ich noch nie aufgeatmet habe.

Ich zieh mir mein bordeaux-farbenes Kordjackett über und streife durch die Stadt, die nach Flieder und Autoabgasen riecht. Im Gewerbegebiet hat diese Woche ein kleines Kino neu eröffnet, in dem von 22 Uhr bis weit in die Morgenstunden Filme gezeigt werden, die leider nur eine Minderheit interessieren. Ich bezahle 10 Euro für die ganze Nacht. Heute laufen "Withnail & I", "Das Gespenst der Freiheit", "Mann beißt Hund" und "El Topo". Das Ende des letztens Films bekomme ich nicht mehr mit, weil ich einnicke. Der Besitzer stupst mich am Ende der Vorstellung mit einem Besen an. Ich schrecke auf und blicke in ein strenges, liebloses Gesicht. "Hey, wir machen jetzt zu, du musst gehen." Ich steh auf und laufe auf zittrigen Beinen nach draußen, die Morgengrauen-Kulisse wird in die Stadt geschoben, kaltes Gähnen zieht über die Dächer, treibt die Tauben auf den Jahrmarkt, am Straßenrand blühen Eiskaffee-Schirme auf und die Tankstellenwärter reiben sich den Sand aus den Augen, überladene Lastwagen krachen über die Narben der Stadt, ungehortete Kinder laufen rückwärts in den Park, treiben ihre Späße mit den Bauarbeitern, deren geil rammelnden Maschinen die Nervenkostüme der alles blockierenden Auto-Fahrer wie Klaviersaiten bespielen. Auf der Suche nach Kaffee begegnet mir kein einziges freundliches Gesicht, niemand würde mir ein paar Cent geben, wenn ich darauf angewiesen wäre, jeder möchte mich aus seinem Leben raushalten, niemand fühlt sich für mich verantwortlich. Ich setze mir ein ernstes, selbstbewusstes Gesicht auf und husche licht- und geräuschempfindlich wie ein Lamm durch dunkle, enge Gassen in mein Versteck zurück, wo ich mich erstmal aufs Klo setze und pisse, mich dann in mein Bett kuschel und hoffe, mindestens acht Stunden durchzuschlafen.

II

Ich verbringe den ganzen Tag im Steigerwald, ich liege auf weichem Moos und schaue durch die hellen, rauschende Bäume in den blauen Himmel, sitze auf einem Baumstamm und beobachtet die Ameisen am Boden einen toten Schmetterling wegtragen, klettere auf einen Baum, mache es mir dicht unter der Krone gemütlich, fühle mich unerreichbar und zu allem bereit, atme ganz tief ein und wieder aus, wie nach einer langen Anstrengung, wie Frühlingswind durch den Garten huscht, wie ein junges Reh herumhüpft und Gießkannen und Eimer umhaut.

Es ist, als ob Erfurt permanent Gift produziert und in die Luft abgibt. Die Menschen sind bedrückt von Arbeitsstress und Desinteresse, aufgedunsen von  Zukunftsangst, die beständig gefüttert wird vom unkontrollierbaren Lärm der Autos und Fabriken und ständig die Ahnung, dass gleich jemand die Fassung verliert, dass gleich ein panisches Geschrei über die Stadt hereinbricht und Schüsse und Sirenen. Wiegt Euch nicht in Sicherheit, Bürger dieser Stadt! Je länger die Katastrophe auf sich warten lässt, desto notwendiger und schlimmer wird sie.

Dort auf der Treppe vorm Edeka sitzt ein niedlicher Junge, etwa 13 Jahre alt, braune Haare, weiches Gesicht mit dunklen Augen, ein grünes Sonic-Youth-Shirt, kurze, zerrissene Jeans, rote Turnschuh. Er passt nicht in diese Stadt, er hat irgendeine Strategie gefunden, sich nicht von ihr gängeln zu lassen und ich spüre, dass ich kein Recht habe, herauszufinden, welche. Ich habe bloß das Recht, ihn zu bewundern und von diesem Recht mache ich Gebrauch wie von einem Säbel, mit dem ich mich vom Wald durch die Innenstadt nach Hause schlage.

Kein Buch der Welt kann einen Spaziergang in einem duftenden Wald ersetzen und mein Herz zeigt seine Zähne. Ich schaue mir auf Youtube eine Live-Aufnahme von Steve Reichs Music for 52 Instruments an und döse ein bisschen. Ich träume davon, dass das Orchester in allen Straßenbahnen der Welt rund um die Uhr über Lautsprecher zu hören ist und dass man der Frau, die diese Idee hatte, jeden Tag einen riesigen Blumenstrauß vor die Tür legt, der immer eine andere Farbe hat.

Ich wache auf und draußen sind alle Laternen der Straße aus, vielleicht ein Fehler im Netz oder ein neues Gesetz, mein Bauch kribbelt, als wäre ein warmes, weiches Licht darin gefangen und ich muss lächeln. Selbst Affen und Hunde sind glücklich aufgeregt, wenn etwas Neues im Käfig passiert. Bewaffnet mit einem Messer, denn es könnte ja irgendein Bösewicht die Dunkelheit benutzen, um böse Dinge zu tun, denn in der Dunkelheit können Menschen besser über ihren moralischen Schatten springen, schleiche ich barfuß durch die Straße, so als gehörte sie zu seiner Wohnung und streiche mit dem Finger über das kalte Metall der Autos, lege mich mitten auf die Straße und schaue in den trüben Himmel, der grad noch genügend Licht abgibt, damit ich mich orientieren kann. Alles ist ganz ruhig, nur ein leichter Wind zieht durch die Straße. Ich könnte jetzt alle möglichen Sachen tun, niemand kann mich sehen. Ich könnte mir einen runterholen oder Autoreifen zerstechen oder auf eine Motorhaube scheißen. Wann habe ich mich - außer in meiner eigenen Wohnung - jemals so unbeobachtet gefühlt? Manchmal kommen mir während eines sexuell sehr aufgeladenen Traums der Gedanke, dass er an eine Wand projeziert wird vor den Augen meiner Eltern von Ärzten und Polizisten analysiert wird. Ich schiebe meine rechte Hand in meine Hosentasche und reibe meinen steifen Schwanz und denke ausnahmsweiße nicht drüber nach, wie mein Gesicht dabei aussieht: solche Gedanken sind völlig unangebracht, wenn es dunkel ist; aber die Straße wird langsam unbequem und ich stehe auf und gehe ein paar Mal die Straße auf und ab und tippte an einen Mercedes-Stern und habe Lust, so mutig zu sein ihn abzubrechen und stelle mir vor wie mein Mut anschwillt an wie wütende Flut und zu immer ekstatischer werdender Musik gegen die Brandung schwappt. Bin ich das Musikstück? Was, wenn die Sirene des Wagens anspringt? Barfuß kann ich nicht gut rennen? Außerdem, so direkt vor meinem Haus? Ich geh eine Straße weiter und noch eine, scheinbar ist das ganze Viertel dunkel und mein Verlangen wird immer stärker und in einer Nebengasse bücke ich mich zwischen zwei hintereinander stehenden Autos und ramme das Messer ganz langsam in den Hinterreifen des größeren Wagens. Ein Mensch hätte jetzt schon wild aufgeschrien, manches Tier wäre jetzt schon tot, aber der Autoreifen lässt das alles über sich ergehen, wie ein alter, müder Gefangener, der sich gegen die Giftspritze nicht mehr wehren will, obwohl er weiß, dass er kein Verbrechen begangen hat. Ich ziehe das Messer langsam wieder raus und kann ganz leise das Austreten der Luft hören. Ich stelle mir vor, wie die Frau, der der Wagen vielleicht gehört, morgens hektisch mit ihrem Kind auf dem Arm zum Auto rennt, um pünktlich ins Büro zu kommen, aus der Parklücke fährt und feststellt, dass der Reifen einen Platten hat und wie sie flucht und vor sich ihren ganzen Tag zusammenfallen sieht. Vielleicht hat sie einen wichtigen Termin, der ihr ganzes weiteres Leben bestimmt. Vielleicht wäre ihr aber auch ein Unfall passiert, wenn sie heute ganz normal ihren Alltag durchgeführt hätte. Ob ich sie in die Scheiße geritten oder ihr das Leben gerettet habe: ich habe mich in die Welt eingebracht, ich habe einer anderen Person den Tagesverlauf entscheidend verändert.

Ich laufe über die Hauptstraße in ein anderes Viertel, in dem die Straßenlaternen noch an sind. Mitten im Weg ist eine Baustelle, abgesperrt mit rot-weißem Absperrband. Ich gleite mit den Händen dicht drüber, was wird hier überhaupt gebaut? Ich berühre das Band, wann kommen die Arbeiter? Ich hab Lust, es abzureißen. Ich erinnere mich an eine Parabel von Kahbil Gibran: eine neue Freude zieht in die Stadt und es erscheinen ein Teufel und ein Engel vor ihrem Haus und streiten darüber, ob sie eine Tugend oder eine Sünde sein soll.

Es kann nur ein Zeichen von Müdigkeit, Alter, Furcht und Schwäche sein, wenn man in schöner, zarter, böser Lust nur noch einen Einwand, ein Defizit, ein Problem sieht. Was deine Lust zu einem Problem für dich werden lässt, stellt den Kern deines Wesens, das Zentrum deines Lebens, die Ballance deiner gesamten Existenz in Frage. Wofür? Kannst du das dulden? Oder hast du dich schon zu weit aus dem Fenster gelehnt?

III

Ich treffe im Stadtpark ein Mädchen, mit dem ich in eine Klasse gegangen bin. Ich hatte nie viel mit ihr zu tun, aber sie spricht mich trotzdem an: "Hey, wie geht es dir? Was machst du so? Mensch, is ja lange her." Will sie mich verarschen oder ist sie einfach nur blöd? Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass ich diesen unbeholfenen Small-Talk unangenehm finde, aber glaube, dass sie es trotzdem spürt und ärgere mich über ihre Ignoranz. Sie mag es zu reden. Wahrscheinlich denkt sie, dass ich mir Hoffnung mache, dass sich zwischen uns etwas entwickelt. Ihr gefällt scheinbar der Gedanke, sie genießt meine Aufmerksamkeit und freut sich, mich nachher ganz freundlich fallen zu lassen. Ich versuche so desinteressiert wie möglich zu gucken, aber vielleicht ist das für sie nur aufgesetzte Coolness, vielleicht interpretiert sie meinen Gesichtsausdruck als Zeichen meiner sexuellen Frustration. Sie erzählt davon, dass sie nach der Schule eine Ausbildung gemacht hat, dann aber abgebrochen hat und nun erstmal in den Tag hinein leben und vielleicht nächstes Jahr mit ihrem Freund nach Portugal reisen will. Ich hasse es, wenn Leute von ihren Partnern reden, ich unterstelle ihnen immer, dass sie das nur machen, um darauf hinzuweisen, dass sie auf dem Liebesmarkt Erfolg hatten und begehrt und eben nicht einsam sind. "Ich habe einen Freund, ich werde geliebt." Damit wollen sie beeinflussen, wie Andere sie wahrnehmen. "Wie kannst du mich nicht mögen, wenn es sogar jemanden gibt, der mich gern küsst?!" - Aber vielleicht tu ich ihr unrecht. Sie ist eigentlich sehr nett, hat eine warme Stimme, wirkt nicht so, als wenn sie eine Rolle spielt oder gierig nach Aufmerksamkeit und Penis ist. Ich möchte kein verdrießlicher Gnom sein. Ich entspanne mich. Es wird langsam dunkel und wir gehen zu mir nach Hause und ich mach uns einen Tee. Sie fragt mich, ob sie kurz ins Internet kann, um bei Facebook reinzuschauen. Ich nutze die Gelegenheit, mich im Bad ein bisschen frisch zu machen. Ich stinke ziemlich. Ich sehe mein Gesicht im Spiegel: irgendwie wirke ich sehr müde, gestresst, frustriert und ungesund, wie ein typischer Bösewicht im Film. Ich fühle mich von meinem Gesicht erniedrigt, aber plötzlich tu ich etwas Irrationales: ich lächle, total krampfhaft, aber ich lächle. Was für eine groteske Fresse. Dann schau ich wieder normal und bemerke, dass ich jetzt ganz anders aussehe: das was mich vorher abgestoßen hat, ist jetzt weg. War es also nur Einbildung? Habe ich meinem Selbsthass mit dem Lächeln einen Stinkefinger gezeigt? Fühlte sich meine Seele durch das Lächeln geküsst, umarmt und damit bejaht? Sie hat wohl nicht mitbekommen, dass es nur ein aufgesetztes Grinsen war... Ich setze mich neben meinen Besuch an den Computer. Sie klickt sich durch das Fotoalbum einer Freundin. Ich frage wer das ist, und sie sagt "Saskia, erinnerst du dich nicht mehr?" Ich sage: "Ach ja, stimmt.", aber weiß trotzdem nicht, wer das ist. Muss wohl eine Klassenkameradin sein, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Auf einem der Bilder ist ihr kleiner Bruder zu sehen, vielleicht zehn Jahre alt, an einem sonnigen Strand, mit einer roten Badehose: er hat sehr schöne schwarze Locken, ein sehr liebes, herzliches Lächeln, was für ein schönes, schönes Kind! Jeder der das Bild gesehen hätte, würde sagen: "Was für ein schöner, lieber, herzlicher Junge!" Es ist nicht möglich, als gesunder Mensch so einen Jungen unsympathisch zu finden oder ihm irgendwie Schaden zufügen zu wollen. Ich versuche so trocken wie möglich zu sagen: "Sympathische Familie hat sie.", während sie weiter durch die Bilder klickt. Mein Herz ist ganz aufgeregt. Ich will unbedingt, dass sie wieder zurückklickt auf das Bild mit dem Jungen, das Verlangen kommt von ganz tief unten, wie das Verlangen, Schokolade zu essen. Es mag ja schlecht für die Zähne und das Gewicht sein, aber es schmeckt gut. Jetzt im Nachhinein kann ich das so beschreiben, in der Situation war es nicht so reflektiert: ich wollte einfach nochmal das Bild sehen, es einfach so lang ansehen wie ich wollte. Dafür sind doch Bilder gemacht, oder? Weil sie Schönheit abbilden können. Ich denke mir, dass ich nachher, wenn ich wieder alleine bin, nochmal in aller Ruhe das Bild betrachten kann. Wann ist sie denn endlich fertig? Sie holt einen Joint raus und bietet mir an, ihn zu teilen, aber ich lehne ab: "Hab ich schon mal probiert, hat mir nie was gebracht." Sie sagt: "Dann musst du es mal pur in ner Bong probieren. Hast du ne Plastikflasche und ein bisschen Alufolie?" Ich habe kein echtes Interesse, weswegen ich mich ein bisschen schäme, und so geh ich ohne was zu sagen in die Küche und suche das Zeug und bring es ihr. Sie spürt nicht, dass ich müde bin und mich nicht für's Kiffen interessiere. "Eine Schere brauch ich noch." Ich bring ihr eine Schere. Sie loggt sich bei Facebook aus und geht ins Bad und ich setz mich auf den Fußboden und kratze mit einem alten Fußnagel, den ich auf dem Teppich finde, über meine linke Handfläche. "Kommst du?", ruft es aus dem Bad. Ich steh wieder auf und geh ins Bad. Sie steht mit der Flasche voller Rauch da und gibt sie mir und ich zieh alles mit einem Mal in die Lunge und muss fürchterlich husten, dann setze ich mich wieder auf den Teppich und plötzlich wird mir total schwindlich, so als hätte ich mich ganz lang um meine eigene Achse gedreht und würde herumtorkeln. Das Licht wird voller, die Farben wirken elektronisch verstärkt, die Musik im Hintergrund verbindet sich damit und eine Art Lampenfieber durchfährt mich. Meine Herzfrequenz erhöht sich, ein seltsamer Zustand von Panik und Entspannung. Sie versucht mit mir zu reden, aber ich bringe keinen Satz raus, mir ist es äußerst unangenehm, dass ich die typischen Stoned-Symptome zeige. Ich kann den Rausch durchbrechen, indem ich mir bewusst werde, dass ich nur gekifft habe und dass ich mich nicht gehen lassen kann, weil ich nicht allein bin. Das Mädchen beobachtet mich und ich tu so, als wenn mich das nicht stört oder es gar nicht richtig wahrnehme, aber es stört mich maßlos, ich nehme es maßlos wahr. Ich versuche freundlich zu gucken und will sagen, dass das ganz schön heftig war, sage aber sowas wie: "Oh, das ist... also weil das ist ja... ich will nicht ... wirken wie... da ... die Musik passt gut, ja." Sie ist jetzt sehr unsensibel. Anstatt mich torkeln zu lassen oder wenigstens mit mir über den Rausch zu sprechen, fängt sie an über Veganismus zu reden. Ich schließe die Augen und bemerke, dass die üblichen bunten Lichtflecken, die man bei geschlossenen Augen wahrnimmt, sehr symmetrisch sind und sich passend zur Musik bewegen. Ich habe Angst, dass dieser Zustand für immer anhält, dass ich mit dem Zeug mein Leben kaputt gemacht habe. Ihr Blick verrät mir, dass sie eine Frage gestellt hat und ich erinnere mich, dass ich mir vorgenommen habe, sie mit "Ja" zu beantworten, während mein Herz sich aus seiner Befestigung zu reißen droht. Sie lacht und wiederholt die Frage. Wann ich das letzte Mal Fleisch gegessen habe? Ich weiß es nicht. Hab ich jemals Fleisch gegessen? Hab ich wohl, aber die Tatsache, dass ich nicht weiß, wann, könnte auch die Tatsache, dass ich jemals Fleisch gegessen habe, umkehren, sodass ich noch niemals Fleisch gegessen habe. Ich möchte sie nicht belügen, aber will auch nicht von ihr verurteilt werden. Vielleicht hat sie Pfefferspray mit und fühlt sich bedroht von mir. Ihr Herz rast bestimmt genau so und sie fragt sich, was ich denke oder ob ich sie nur für dieses Buch erfinde. Die Musik rumpelt weiter, so als würde sie gerade in diesem Moment entstehen in einer Garage hinter meinem Gehirn, sie möchte Narben auf meinem Körper hinterlassen, aber sie weiß, dass ich noch nicht so weit bin. Mir wird bewusst, dass die Musik in der Vergangenheit aufgenommen wurde und auch morgen noch auf diesem Tonträger existiert. Dieser ganze Rausch ist im Grunde nur eine Ausdehnung jenes Zustands, in dem man sich befindet kurz bevor man einschläft. Ein langer, weicher, wirrer Einschlafzustand. Ich habe ihre Frage schon wieder vergessen und so geht es immer weiter: sie fragt etwas und ich denke darüber nach und schweife ab und habe dann die Frage wieder vergessen. Ist dies ein euphorischer Zustand? Will er mich glücklich machen? Oder habe ich gerade nur eine Psychose? Es gibt nichts, was ich aus diesem intensiven Schwindelgefühl machen kann. Ich nehme mein Gehirn wahr, wie es mühlengleich nach Worten und Mimiken und Gestiken sucht, wie es stampft und schlürft, ein Hund an der Leine, der gelernt hat, nicht zu ziehen: früher ist der Besitzer, als der Hund gezerrt hat, stehen geblieben oder hat die Richtung gewechselt. Nach einigen Monaten hat der Hund begriffen, dass das Ziehen nicht effektiv ist. "Ich esse keine Leichen." sagt sie, "Alle Lebewesen sind gleich und ich esse auch keine Menschen, weil ich keine Tiere esse." Ich stelle mir nicht vor, wie ich ihr in die Waden beiße, ich schmeiße sie nicht aus der Wohnung, ich trinke nicht meine Wasserflasche leer, ich schlafe nicht ein, ich bin nicht wahnsinnig, das ist nicht das Ende. Da steht eine Kuh auf der Weide, sie Sonne lacht, es ist ein Prospekt und ich blättere darin und nehme mir vor das morgen ganz genau durchzulesen, ich habe die Ahnung, dass es mein Leben verändern wird, vielleicht werde ich erwachsen. Sie steht im Türrahmen und winkt mir freundlich zu. Jetzt werde ich also allein gelassen. Meine Wohnung hat sich nicht verändert, es ist meine Wohnung, alles darin repräsentiert mich, alles darin hält mich beisammen, wie eine Mutter die dem Kind verbietet, bei Gewitter in den See zu gehen, und doch glaube ich, sie ist zu streng, irgendwas stimmt nicht mit ihr. Sie ist es nicht gewohnt im Rampenlicht meiner Konzentration zu stehen. Ich höre das Schwindelgefühl in meinem Kopf, einem rostigen Karussell gleich, an dem bunte Ballons hängen. Vielleicht bin ich dieses Karussell, ja, ich will es so, aber es gelingt zum Glück nicht. Ich mach mir eine Flasche voll mit Leitungswasser und trinke sie fast in einem Zug aus. Habe ich heute schon was getrunken? Habe ich das Mädchen gebissen? Nein, sonst wäre sie beim Abschied nicht so freundlich gewesen. Hat sie mir übel genommen, dass ich sie nicht zur Tür gebracht habe? Vielleicht hat sie angenommen, ich übertreibe das bekifft sein. Ich schäme mich für meine Unsicherheit und genau das hat sie wahrgenommen. Nach einer Weile lässt das Schwindelgefühl nach und ich beginne plötzlich zu wissen, dass ich sehr ernst und glaubwürdig und selbstbewusst aussehe. Niemand kann mir etwas vormachen. Ich schaue auf den Prospekt und finde es schade, dass gerade niemand hier ist, um sich meine Meinung anzuhören. Ist das meine Meinung? Oder will ich damit nur kokettieren? Ist meine Meinung nur ein Eindringling? Eine Art Infekt? Was hat meine Meinung mit mir vor? Hat sie Geheimnisse vor mir? Wird sie von einer Institution kontrolliert? Was hat die Meinung mit mir zu tun? Wem nützt sie? Will sie aus mir einen Hampelmann machen? Ich kann die Fragen nicht beantworten, deshalb ist es nicht schlimm, sie nicht zu beantworten. Ich habe Angst vor Leuten, die mit dem strengen, vorwurfsvollen Blick einer Mutter und der kalten Entschlossenheit eines Vaters und der süßen Liebenswürdigkeit eines klugen Kindes mich und sich und alle Menschen auf die selbe Stufe wie ein Schwein stellen, doch niemand hört mir zu, ich gebe niemandem ein Interview, ich stehe auf keiner Bühne. Ich werde jetzt noch etwas draußen herumlaufen, bis sämtliches Schwindelgefühl weg ist. Ich sehe schon, wie ich ganz normal mein Leben weiterführe. Der Gedanke, dass der Rausch Narben hinterlassen wird, irgendwas verfinstern oder zersetzen wird, ist nur Teil des Rausches. Gedanken können nicht die Zukunft verändern. Gedanken können nicht die Zukunft verändern. Gedanken können nicht die Zukunft verändern. Dieses Mantra erlöst mich. Ich geh an den Computer klicke in den Verlauf und suche das Fotoalbum von Saskia, aber man hat nur Zugriff darauf, wenn man mit ihr befreundet ist. Ich sag laut "Ach Scheiße!" und erschrecke darüber, aber nur ein bisschen.